Stazione Ferroviaria S. Luciaa
Eine Bahnstation, die genausogut irgendwo sonst liegen könnte. In Wien, Dortmund oder Hollabrunn meinetwegen. Eine Bahnstation, auf deren Bahnsteigen halbleere Coladosen und weggeschnippte Zigarettenstummeln friedlich nebeneinander verharren. Auch überquellende Abfallbehälter und Wartebänke, die sich bei längerem Daraufsitzen als ziemlich unbequem herausstellen.
Wenn du also diese Bahnstation, die genausogut irgendwo sonst liegen könnte, nach etwas mehr als sieben Stunden ab Linz erreicht hast, mit deinen Gepäckstücken, welche du glücklicherweise ohne Umstände von der Kofferablage herunterhieven konntest, wenn du also mit diesen Gepäckstücken und mit Tempo den vorhin beschriebenen Bahnsteig entlangtrabst, auf halbleere Coladosen, weggeschnippte Zigarettenstummeln, überquellende Abfallbehälter und unbequeme Wartebänke nicht achtest, das Bahnhofsgebäude durchquerst, die davor befindlichen schätzungsweise fünfzehn bis zwanzig Stufen hinuntereilst, quer über die Fondamenta Santa Lucia rennst, dann an der Linienbootanlegestelle in ein zumeist überfülltes Vaporetto springst, dir auf demselben in der linken vorderen Ecke, direkt neben dem Geländer jenen Platz eroberst, von welchem aus du ohne Sichtbeeinträchtigung auf das Wasser jener Kanäle blicken kannst, die in das Geschwapper des Canal Grande einmünden, dann entdeckst du es. Jäh. Jedes Mal wieder.
Das Licht bildet Ringe. Krümmt sich. Flattert. Flirrt. Je öfter du in diese Stadt kommst.
Hier läßt sich im Schatten Lichtfülle wahrnehmen!
Campo dei SS. Giovanni e Paolo
Dem Bauch der Stadt mutet beinah Verlassenheit an. Selbst in den Sommermonaten. Hier ist nichts überschwenglich, nichts bedeutungsvoll. Lastboote am Rio und in der Gassenenge träge Worte. Schlaff scheint selbst die Schwüle zu sein. An diesem Platz erschlägt dich nichts, obwohl sich rundherum das Brüchige, Abbröckelnde anschleicht. An diesem Platz ist nichts lieblich, nichts häßlich. Bloß auf die Anmut wurde vergessen.
Am Kranzgesims des „Ospitale“ nisten Tauben. Ihr Gurren tapst zwischen den beiden Cafés am Campo. Um zwölf, sobald die Glocken zu läuten beginnen, wird sich dösig ihr Raunen zwischen dem Gefieder verbergen.
Chiesa di San Marco
Nun will ich dir eine Geschichte erzählen:
Vor sehr langer Zeit, es muß mehr als elf Jahrhunderte her sein, bereisten zwei venezianische Kaufleute Alexandria. Beide waren vornehme Herren, die ihre Waren bereits in anderen Städten verkauft und dabei gewinnbringende Geschäfte erzielt hatten. Deshalb konnten sie es sich auch leisten, sich so vornehm zu geben. Die venezianischen Fremden hatten ein derart nobles Auftreten und waren von derart eleganter Erscheinung, daß jene, die ihnen in den Gassen und Basaren Alexandrias begegneten, stehenblieben, um ihnen ihre Ehrerbietung darbringen zu können. Was dabei keiner ahnen oder vermuten konnte war jenes, daß die beiden Kaufleute in Alexandria einen Auftrag zu erfüllen hatten. Vor ihrer Abreise erhielten sie nämlich vom ersten Dogen Venedigs die außerdienstliche Weisung, sich in Alexandria des Leichnams des Evangelisten Markus zu bemächtigen, den der Doge dort bestattet wußte. Genauer gesagt, ließ der Doge mitteilen, die beiden dürften erst dann wieder mit ihren Gütern handeln, sobald sie ihm besagten Leichnam auf die oberste Treppenstufe des Marmorpalastes gelegt hatten. Was blieb den beiden also anderes übrig, als diesem Befehl, obgleich dieser lediglich ein indirekter war, nachzukommen, um nicht als aufmüpfig zu gelten. Auch lag beiden sehr daran, weiterhin ihre Handelsgeschäfte abwickeln zu dürfen. Also raubten sie den vom Dogen begehrten Leichnam, reisten mit ihm zurück über die Meere und legten das Diebesgut auf die Stufen des Dogenpalastes. Über der sterbliche Hülle des Evangelisten Markus ließ ein anderer Doge, allerdings in viel späteren Jahren, die Kirche San Marco errichten.
Von den beiden Leichenentwendern erzählte man in Alexandria später, daß diese bei der besagten Tat mit äußerster Vornehmheit und Eleganz zu Werke gegangen sein sollen.
An der Riva degli Schiavoni
Überall Menschen! Als hingen Puppen an Fäden. Die Stadt wird niedergerannt, droht zu sterben. Im Sommer ein wenig mehr, als sie ohnehin stirbt.
Jedoch die Faszination liegt im Treiben. So wie Seevögel, Möwen. Im Meer, in der Luft. Sich ohne besonderen Kraftaufwand bewegen. Auf Glitzerschaum hinaus in die Lagune. Auf Spiralen über den Wasserarmen. Schräg zu den Booten. Die Sonne steht hoch über San Giorgio Maggiore. Streift über das Kloster, den Glockenturm. Die Schönheit der Stadt müßte an Spiegelungen gemessen werden, am Durchsickern des Unberechenbaren.
Am Fischmarkt
Gewiß kennst du ihn! Gewiß kennst du diesen Geruch, der dir auf einem Fischmarkt frühmorgens entgegenschlägt. Da kann ich dir wahrscheinlich nichts vormachen. Kann dir nicht davon erzählen, daß es auf diesem Fischmarkt, der hier hinter der Ponte Rialto liegt, anders riechen sollte, als auf jenem in Bari, Iskenderun oder in einer anderen südlichen Hafenstadt.
Und doch plaudere ich dir nichts vor, wenn ich dir folgenden Duft beschreibe:
Auf diesem Fischmarkt hier, riecht es ein klein wenig nach Zimt. Diesem Geruch fügst du das Schillern von Langusten und das Schimmern feuchter Oktopusarme hinzu, weiters die Lebhaftigkeit des Seeteufels und die Behendigkeit des Schwertfisches. Dies alles mischt du mit den Farben sonnengereifter, vollmundiger Sommertage. Würzt anschließend mit Meersalz, einem Strauß Basilikumblättern und übergießt alles mit einem Schwall Leben. Anschließend nippe von diesem Aroma, und du wirst die Frische des Südens nicht los.
Die Insel Giudecca
Sie ist anders. Sie ist, als wolle sie nicht zu Venedig gehören. Trägt sich glanzlos und lächelt verhalten. Zeigt ihr Lächeln dem, der es zufällig findet. Verborgen zwischen Backsteinhäusern und geflickten Netzen. Zwischen weißen und hellblauen Booten am Rio della Pallada. Giudecca scheint so, als würde ihr das Schwülstige allzu aufdringlich sein. Als würde ihr das Theatralische allzu zügellos erscheinen.
Denn Venedig macht andere gerne zu Narren. Es hat etwas Unverschämtes im Blick. Es bestarrt dich, wartet. Falls du bereit bist mitzugehen, zieht es dich fort von dem Blendwerk. Zeigt dir schattierte Gesichter, Spiegelbilder. Flüstert mit dir über Farben, Gerüche. Falls du zurückraunst, dann überrascht es. Raffiniert legt es sich bloß und nimmt dich gefangen. In aller Abgeschiedenheit.
***
Doch was soll ich dir noch erzählen? Eigentlich bin ich in Eile!
Eigentlich sollte ich bereits am Hauptbahnhof sein, mich zwischen den Wartenden durchschlängeln, meine Gepäckstücke ins Koffernetz hieven und mich Richtung Stazione Santa Lucia begeben. Der Zug fährt um 07.29Uhr. Du siehst, die Zeit drängt!
Sobald ich die etwas mehr als siebenstündige Bahnfahrt hinter mich gebracht und das Abteil verlassen habe, werde ich meine Ankunft wie immer erleben. Ich werde, während ich den Bahnsteig entlang trabe, weder auf halbleere Coladosen noch auf weggeschnippte Zigarettenstummeln achten, auch nicht auf überquellende Abfallbehälter und – na, du weißt schon!
Sobald ich am Vaporetto stehe, wie immer in der linken vorderen Ecke, direkt neben dem Geländer und auf das Wasser jener Kanäle blicke, die in das Geschwapper des Canal Grande einmünden, werde ich es wieder entdecken. Dort läßt sich im Schatten Lichtfülle wahrnehmen! Raffiniert legt es sich bloß in aller Abgeschiedenheit.
Venedig macht andere gerne zu Narren.
(erschienen am 5. September 1998 in OÖN)
Text & Foto © Henriette Sadler