Es ist Nacht. In einer domähnlichen Halle brennen zahlreiche weiße Kerzen. Der Richter der Unschuld (im folgenden Text „Herr Schnabel“ genannt) sitzt auf einem Thron und registriert das Zeitgeschehen per Video. Unverwandt blickt Herr Schnabel dabei auf den Fernsehschirm. Ein dort laufender Erotikfilm scheint seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Krampfhaft hält er die Fernbedienung umklammert.
Zu Herrn Schnabels Füßen lümmeln einige engelhafte Wesen und unterhalten sich kichernd. Herr Schnabel ist mit einer schmutziggrauen Tunika bekleidet, auf der ein paar eingetrocknete Blutflecke erkennbar sind. Weiters prangt auf der Vorderseite der Tunika das Wort „UNSCHULD“. Herrn Schnabels weiße Lockenperücke ziert eine Pappkrone. Diese ist sichtlich mit Alufolie überklebt. Ein weißer Muff baumelt vor Herrn Schnabels Bauch. Immer wieder zieht der Mann ein Paar Spitzenhandschuhe aus dem Muff hervor. Herr Schnabel scheint nervös zu sein. Denn mit den Handschuhen fährt er sich über die Stirn, als ob diese schweißbedeckt wäre. Auffällig sind die schmalen, zarten Hände des Herrn Schnabel.
Nicht weit vom Thron entfernt, steht ein weißes Klavier. Ein Flügel!
(Eine ältere Frau, bekleidet mit Lodenmantel und Trachtenhut, betritt die Halle. Es ist Frau Fleck. Ehrfürchtig sieht sie sich um, erblickt Herrn Schnabel, eilt auf ihn zu)
Frau Fleck:
(überrascht)
Aber … aber, das ist ja …
Allmächtiger, der Herr Volksschuldirektor!
Der Herr Schnabel!
(Sofort drückt Herr Schnabel auf einen Knopf der Fernbedienung und das Bild auf dem Fernsehschirm wechselt zu einem Kriegsschauplatz. Hastig streift Herr Schnabel die Spitzenhandschuhe über)
(Frau Fleck freudig)
Aber Herr Direktor! Dass wir uns wieder einmal sehen! Kennens mich noch? Ich bins! Die Fleck vom Fünfunddreißiger-Eingang. Mein Gott, Herr Schnabel, wie schön Sie immer Klavier gespielt haben. Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wär!
(Frau Fleck beginnt die Anfangstakte von Mozarts „Eine kleine Nachtmusik“ zu singen)
Da da … dadadadadada … dadadada da …
Die kleine Nachtmusik! Herr Schnabel!
Mozart! Ihr Lieblingskomponist! Den habens mit Leidenschaft
gespielt.
Herr Schnabel:
Schweigen Sie! Ich bin der Richter der Unschuld!
Es ist zwecklos, durch ein geheucheltes Maß an Zutraulichkeit, meine Objektivität beeinflussen zu wollen.
Strafbare Handlungen?
(Mittels Handbewegung deutet Herr Schnabel einen ihm zu Füßen Lümmelnden an, Einsicht in einige
Datenblätter nehmen zu wollen, die in Reichweite liegen. Der dazu Aufgeforderte reicht Herrn Schnabel die
Blätter).
Frau Fleck:
Und wie schön Sie ausschauen, Herr Direktor! Beinah so wie damals! So fein und so elegant.
Mein Gott, Herr Schnabel!
(Henriette Sadler: Auszug aus dem Theaterstück Schlafe süß, uraufgeführt 2004)
Text & Fotos © Henriette Sadler